Die Pendlerin
Regine, 65 Jahre
Nach Hamburg bin ich in meinem Leben oft gekommen, aber nie lange geblieben. Eine längere Zeit habe ich in Hamburg verbracht, als ich von Neumünster, der unscheinbaren kleinen Stadt, nach Hamburg zum Studieren gekommen bin. Großstadt, Aufbruch, viele Menschen aus ganz verschiedenen Ländern. Unterschiedliche Kulturen. Meine Jugendzeit in Neumünster hatte ich eigentlich nicht sehr interessant gefunden. Das wahre, spannende Leben begann zu diesem Zeitpunkt. Wohnen im internationalen Studentinnenheim, Hildegardis-Haus, Willistr. 1 in Winterhude. Das Schreiben für „Mein Hamburg“ hat Erinnerungen geweckt. Hinter dem Haus im Garten gab es Boote, mit denen wir auf einer Art Kanal fahren konnten. Gerne würde ich an der Willistr. 1 noch einmal vorbeifahren. Ich habe gehört, dass das Hildegardis-Haus heute ein Alten- und Pflegeheim sei. Wie das wohl wäre, dort noch einmal im Alter zu wohnen, wo ich als Studentin gelernt, aber auch Partys gefeiert habe? Jedes zweite Wochenende und Weihnachten bin ich nach Hause gefahren. Hamburg war also für mich das so oft zitierte Tor zur Welt. Und durch dieses Tor sollte ich gehen und noch weiter. Meine Abenteuerlust und Neugier waren größer als Hamburg.
In Hamburg habe ich meinen Mann kennengelernt, einen Simbabwer. Nach dem Studium und einem Jahr Berufstätigkeit bin ich nach Simbabwe gegangen. Zwei Jahre habe ich dort gelebt, und wir haben geheiratet. Das war eine sehr intensive, eindrucksvolle und prägende Zeit in meinem Leben. Mit unserer kleinen Tochter sind wir wegen des Studiums meines Mannes nach Deutschland zurückgekehrt, in Neumünster bei der Mutter und Großmutter angekommen – und in Neumünster geblieben.
Und nun wurde ich zur Berufspendlerin, und das für mehr als 30 Jahre. Das war anstrengend und beschwerlich, hatte aber irgendwie auch seinen Reiz. Ich fand es oft sehr schön, morgens in Hamburg anzukommen: rein ins pulsierende Leben der Großstadt und hin zum Arbeitsplatz Hamburger Öffentliche Bücherhallen, viele Jahre die Zentralbibliothek und später die Bücherhalle Harburg. Manchmal habe ich mich auch den Neumünsteraner*innen gegenüber, die nicht auswärts arbeiteten, ein wenig „überlegen“ gefühlt, durfte ich doch die Enge der kleineren Stadt verlassen. Das Zurückfahren war mitunter auch wie ein kleiner Abschied: von einer tollen Stadt, einer Arbeit, an der ich Freude hatte, und netten Kolleginnen. Am nächsten Morgen, oder wenn ich zurückkehrte, gab es mitunter eine Art Wiedersehensfreude. Jedoch hatte auch das Nachhausekommen nach Neumünster eine schöne Seite. Irgendwie hatte die Ruhe der kleinen Stadt etwas Beschützendes an sich.
Und nach vielen Pendlerjahren war es dann so weit. Zuerst die Tochter und etwas später der Sohn haben sich zum Tor der Welt aufgemacht, um wie ich damals zu studieren. Ein Aufbruch und vielfältige Möglichkeiten, Neues kennenzulernen und sich auszuprobieren. War für mich das Eintauchen in das Großstadtleben mit kultureller Vielfalt und Internationalität eine Horizonterweiterung, bedeutete es für sie als Schwarze Menschen sicher noch viel mehr. Hier gab es zum Beispiel eine Schwarze Community, die es in Neumünster nicht gegeben hatte. Im Gegensatz zu mir sind sie geblieben und Hamburger*innen geworden. Ich habe seit fast zwei Jahren das Arbeiten und auch das Pendeln aufgegeben. Jedoch gibt es viele Gründe dafür, dass ich immer wieder gerne nach Hamburg komme: zuerst natürlich meine bunte Familie, zu der meine Kinder, mein Schwiegersohn aus Sambia, meine inzwischen 14-jährige Enkeltochter und auch eine Nichte von meinem Mann und ihr Mann gehören, aber auch die Treffen mit ehemaligen Kolleginnen sind mir wichtig.
Und eigentlich wäre jetzt die Zeit, Hamburg ganz neu oder überhaupt erst richtig zu entdecken.